20 November 2011

Lesen macht klug und schoen 518 - Gila Lustiger - Woran denkst du jetzt

Über das private und Intime einer Familiengeschichte pirscht sich Gila Lustiger auf Umwegen und mit einem unverkennbar ironischen Blick an europäische Geschichte heran.

Gila Lustiger - Woran denkst du jetzt

Roman
ISBN-13 9783827010179
18,90 EUR 

Sie wären in dieser Nacht nicht dort, wäre Onkel Paul nicht gestorben. So sind sie zurückgekehrt in das Haus ihrer Kindheit. Die Nichten Lisa und Tanja, inzwischen erwachsene Frauen, begegnen sich in dieser Nacht als Schwestern, als Rivalinnen um Liebe und Anerkennung, und sie begegnen sich selbst.

„Wir sind doch über viel, viel Schlimmeres hinweggekommen. Wenn du dir überlegst, worüber wir alles schon hinweggekommen sind. Wir sind wahre Meister im Darüberhinwegkommen.“

Die Geschichte beginnt mit ihrem Ende. Onkel Paul war lange krank gewesen, sein Tod war keine Überraschung, und doch ist da erst mal Stille, Wut und Ratlosigkeit. Belangloses, Erinnerungen und Alltägliches mischen sich in das Gespräch der Schwestern. Aufgewühlt von der Trauer, für die sie noch keine Worte haben, erzählen sich Lisa und Tanja von Onkel Paul. Er war an die Stelle des Vaters getreten, als sich die Eltern scheiden ließen. Er übernahm die Rolle der Mutter, als sie sich nach der Trennung nicht um die heranwachsenden Töchter kümmern konnte. Heute ist Tanja eine erfolgreiche Wirtschaftsexpertin, hat Familie, einen soliden Mann und eine niedliche Tochter. Lisas Schauspielerkarriere ist zwar gescheitert, doch sie hat sich ein Leben als Therapeutin aufgebaut. Paul, selbst ein Mann der Kunst, des guten Geschmacks, hatte sich mehr gewünscht, denn seine beiden Nichten sollten alles werden, nur nicht gewöhnlich. Die Trauer macht uns erst sprachlos, dann empfänglich für das, was wir nicht wahrhaben wollen, und gibt uns schließlich eine Sprache für die eigene Geschichte zurück. Diesen Moment nutzt Gila Lustiger in ihrem neuen Roman, entlarvt die Gewissheiten und falschen Wahrheiten, um dorthin zu gelangen, wo auch Trost wieder möglich ist. Mit leichter Hand gelingt es ihr, ein Kammerspiel über den Tod zu schreiben und dabei über das Leben zu reden. Gila Lustiger ist eine kraftvolle und kompromisslose Erzählerin, der wir gern in diese Nacht der Trauer folgen, behält sie sich doch vor, auch das Komische im Allzumenschlichen zu sehen. 
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Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Von 1982 bis 1986 studierte sie Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem, seit 1987 lebt sie als Verlagslektorin, Übersetzerin und Autorin in Paris. Ihr erster Roman, Die Bestandsaufnahme, erschien 1995, Aus einer schönen Welt 1997.
Mit So sind wir (Berlin Verlag 2005; BvT 2007), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien von ihr Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück (Berlin Verlag 2008; BvT 2010).
 Pressestimmen:

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 17.09.2011

Gila Lustigers eindringlicher Familienroman "Woran denkst du jetzt" hat Beatrice Eichmann-Leutenegger nicht kalt gelassen. Im Zentrum sieht sie zwei Schwestern, die anlässlich des Todes ihres Onkels ein langes nächtlichen Gespräch über familiäre Irrungen und Wirrungen führen. Sie bescheinigt der Autorin nicht nur ein differenziertes Porträt der beiden Frauen, sondern auch einen tiefen Blick unter die Oberfläche ihrer Familiengeschichte. Das Ganze hat in ihren Augen Witz, aber auch einige Längen. Nichtsdestoweniger weist der Roman für sie zunehmend Tiefgang auf. Besonders hebt sie dabei die Kompromisslosigkeit hervor, mit der die Autorin den Tod thematisiert.

„Natürlich ist alles autobiographischer Lebensstoff, wovon Gila Lustiger hier erzählt, und doch verwandelt sie ihn in einen Roman, in ein Fiktionsspiel.“ FAZ über SO WAREN WIR
»Ein brillant erzählter Roman aus einer Welt voller Widersprüche.« Focus
»Mit bohrender Ehrlichkeit, mit Ironie und mit Humor hat sie sich mit ihrem Familienroman von der Last ihrer Herkunft freigeschrieben.« Arte

»Gila Lustigers Roman ist ein wunderbares Buch über Familiengeheimnisse, über weiße Flecken in den Biografien und die Versuche, mit einem Lachen über das Grauen hinwegzugehen.“ ORF

»Natürlich ist alles autobioraphischer Lebensstoff, wovon Gila Lustiger hier erzählt, und doch verwandelt sie ihn in einen Roman, in ein Fiktionsspiel.« FAZ

»Ein fein ausbalanciertes Buch zwischen Leichtigkeit und Affekt, zwischen hoher Kunstfertigkeit in der Konstruktion und einem beiläufigem fast schnorrrigem Erzählton.« Süddeutsche Zeitung

»Dieser vehemente rhetorische Versuch des Ausbruchs aus dem übernommenen jüdischen Gemeinschaftssinn ist ein mitreissendes stilistisches Bravourstück aus Selbstironie, Sprachwitz und diskursiver Geschichtsdarstellung ... Es bekennt sich zur obszönen Banalität des Glücks, Gila Lustiger zu heissen und ein jüdischer Schriftsteller von heute zu sein. Das ist seine Botschaft.« Neue Zürcher Zeitung 

»Ein großartiger Familienroman ... 'So sind wir nicht', sagt uns die nahe Fremde und versieht die Tür zwischen Täter- und Opferkindern mit einem Griff. Öffnen müssen wir sie selbst und hinsehen.“ Rheinischer Merkur

»Vielleicht war zwischen meinen Großeltern auch ein bisschen Erotik nach jüdisch-sittlicher Manier mit im Spiel: Meine Großmutter stürzte und enthüllte dabei einen Schenkel oder andere, sonst verborgene Körperteile eines Mädchens aus gutem Haus. So ein Sturz, comme il faut, bei dem man von einem netten Mannsbild aufgefangen wird. Danach tränenreiche Empfindsamkeit und Heirat. Ein hübsches Bild! Man sollte auch die Ausstattung nicht vergessen: ganze Koffer voller Leinen, Silber, Tüchern, Decken, alles fein säuberlich sortiert.«

»Ja, von Großeltern soll nun berichtet werden und von Familie mütterlicherseits. Erlebtes wird mit Gehörtem verwoben, Familienlegende von armen Schluckern gratis hinzugefügt, Erdachtes wird unauffällig eingeschoben, bis ein Knoten entsteht, ein Knoten, so ehrgeizig, brutal, armselig und großartig, wie dieses Kapitel, das sich Palästina nennt. Pa-läs-ti-na heißt das Kapitel, und es beginnt vor meiner Geburt, neunzehnhundertvierundzwanzig oder kurz davor ... Es beginnt, um genau zu sein, mit einer vergilbten Romanze, eher vergilbten Fotos in einem Schuhkarton, die neben Wintermänteln und Mottenkugeln darauf warten, von mir hervorgeholt zu werden.«

Im Mittelpunkt des neuen Romans von Gila Lustiger steht die Familiengeschichte der Autorin. Inspiriert von Fotos und Gegenständen — einem Briefbeschwerer, Zeitungen oder einer Puppe — , erinnert sich die Ich-Erzählerin an die Eltern, Großeltern und näheren Verwandten und deren Geheimnisse. Was diese Menschen verbindet, ist ihre Abstammung. Sie sind mitteleuropäische Juden und daher Verlierer der Geschichte. Sie sind Schweiger, die über ein brillantes Gedächtnis verfügen, aber auch über die souveräne Möglichkeit, keinen Gebrauch davon zu machen. So wird dieser Roman auch zu einem Roman der Suche. Auf die Erinnerung, Fakten und Familienlegenden gestützt, füllt die Autorin die Lücken in der Familienchronik mit ihrer Phantasie aus. Mit genauen atmosphärischen Details stellt sie die Atempausen im Leben dar, die erotischen Obsessionen und ideologischen Selbstbetrügereien, all die kleinen alltäglichen Zwischenstationen, die aus Opfern Menschen machen. Gila Lustiger erzählt von den Gründungsmythen des Staates Israel, der Zeit der Einwanderung und der Unabhängigkeitserklärung, ihrem eigenen Heranwachsen zwischen Deutschland und Israel, von dem Vater Arno Lustiger, dem Auschwitz-Überlebenden, der dennoch in Deutschland blieb. Mit einer Fülle von Episoden, in denen Tragik und Komik eng verflochten sind, bringt sie jenen Erzählstrom in Fluss, der die jüdische Prosa schon immer auszeichnete.
Es ist ein grandioses, mitreißendes und packendes Zwiegespräch, das diese beiden Frauen miteinander führen - oder ist es am Ende ein Selbstgespräch, das die Hauptfigur auf zwei Stimmen verlagert? Oder spricht die Autorin auch ein bisschen selbst in diesem Text? Wir haben Gila Lustiger in Paris aufgesucht, wo sie uns erzählt, wie es ist, wenn einer fehlt, was passiert mit dieser Leerstelle, wer sie wie ausfüllt mit den eigenen Projektionen. BR-online

Gila Lustiger ist ein zärtlich-wehmütiger, intimer Roman gelungen. Mit feiner Ironie und Sinn für Komik tariert sie das Spannungsverhältnis von Geschwistern aus und macht aus Konkurrentinnen allmählich wieder Komplizinnen, die erkennen, dass man kleine Flunkereien braucht, um die blendende Schönheit des Lebens zu ertragen wie auch den Schmerz über die unabwendbare Vergänglichkeit. dradio/kultur


Bücher von Gila Lustiger


Lustiger, Gila: Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück (Ab 10 Jahre)

Cover: Herr Grinberg & Co
Bloomsbury Verlag, Berlin 2008, ISBN 3827007739, Gebunden, 183 Seiten, 14,90 EUR
Illustriert von Vitali Konstantinov. Was verbindet einen grüblerischen, übellaunigen Gelehrten und ein kleines, besserwisserisches Mädchen? Nichts, außer vielleicht die Neugier aufeinander. Denn obwohl sie Nachbarn sind und sich täglich begegnen, leben sie doch in völlig verschiedenen Welten. Herr Grinberg steckt seine ..

Lustiger, Gila: So sind wir. Roman

Cover: So sind wir
Berlin Verlag, Berlin 2005,  9,90 EUR
Im Mittelpunkt des neuen Romans von Gila Lustiger steht die Familiengeschichte der Autorin. Inspiriert von Fotos und Gegenständen - einem Briefbeschwerer, Zeitungen oder einer Puppe - , erinnert sich die Ich-Erzählerin an die Eltern, Großeltern und näheren Verwandten und deren Geheimnisse. Was diese Menschen verbindet, ist ihre ...

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