Mütter, Macht, Missbrauch - Jonathan Coes Roman „Der Regen, bevor er fällt“ handelt von Lebensbildern und von einem Glück, das es nicht gibt
Jonathan Coe - Der Regen bevor er fällt
Roman
Deutsche Verlags-Anstalt
ISBN-10 3421043671
18,95 EUR
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Von Müttern und Töchtern, Lügen und Geheimnissen: Eine Handvoll Fotos und ein Stapel selbst besprochener Tonbänder, das ist Rosamonds Vermächtnis an Imogen, die blinde Enkelin ihrer Cousine Beatrix. Auf den Bändern erzählt Rosamond die Familiengeschichte und findet nach und nach Worte für jenes Unglück, das zu Imogens Erblindung führte. – Ein bewegender Roman über drei Generationen von Frauen und über das verzweifelte Streben nach Liebe und dem Lebensglück.
»Ich möchte dir, Imogen, einen Begriff von deiner Geschichte vermitteln. Du sollst ein Gefühl dafür bekommen, wo du herkommst und welches die Triebkräfte waren, die dich hervorgebracht haben.« So beginnen die Aufzeichnungen, die Rosamond hinterlassen hat. Anhand von zwanzig Fotografien erinnert sie sich an die tragische Geschichte ihrer Familie. In deren Zentrum steht Imogens Großmutter Beatrix, die unter der fehlenden Liebe ihrer Mutter litt und deshalb früh von zu Hause flüchtete; die die selbst erlebte Gefühlskälte an ihre Tochter weitergab und so den Weg zu dem schrecklichen Unglück ebnete, das Imogen für immer das Augenlicht nahm.
Ein bewegender Familienroman über drei Generationen von Frauen und deren Sehnsucht nach Liebe – und die poetische Erkundung eines fatalen Vermächtnisses. Jonathan Coe gelingt es, in diesem dichten Roman emotional fesselnde Figuren zu entwickeln und ein sensibles Bild von der besonderen Dynamik der Mutter-Tochter-Beziehung zu zeichnen. Die Geschichte des blinden Mädchens Imogen, die Schilderungen der Momente intensiven Glücks zwischen Rosamond und Beatrix und die Aufdeckung der zerstörerischen Macht eines dunklen Familiengeheimnisses wird kein Leser je wieder vergessen.
Aus dem Englischen von Andreas Gressmann.
Jonathan Coe wurde 1961 in Birmingham geboren. Sein preisgekrönter Roman "Allein mit Shirley" wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt. Jonathan Coe lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in London.
Jonathan Coe, der bekannt geworden ist mit sozialpolitischen Satiren wie „Erste Riten“, „Klassentreffen“ und „Allein mit Shirley“, erzählt in seinem achten Roman „Der Regen, bevor er fällt“ zwei Geschichten mit melancholischem Grundton.
Gill und ihre Töchter hören sich die Bänder an, die eine ihnen bislang unbekannte Familientragödie über drei Generationen offenbaren. Rosamonds Erzählung nimmt den Großteil des Romans ein.Der Autor lässt Rosamond ihr Vorgehen häufig reflektieren, die Erinnerungen in Frage stellen. Für Rosamond haben Fotos nur diesen Wert: das fehlbare Gedächtnis zu unterstützen und einen Beweis dafür zu liefern, dass die Dinge, an die sie sich erinnert, wirklich passiert sind.
Coe erzählt vom Leben dreier Generationen von Frauen, Ivy, Beatrix und Thea, die in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter versagen. Die kontinuierliche Weitergabe von Beschädigungen an die jeweils folgende Generation erzeugt eine perverse Form von Tradition in Mutter-Tochter-Beziehungen. Coe beginnt mit subtilen Andeutungen, die sich langsam verdichten und schließlich ihren Kulminationspunkt im offen beschriebenen Grauen finden. Wir erfahren auch, warum Gill Imogen nicht ausfindig machen konnte.
Ein lesenswertes Buch über die Macht, die Mütter über ihre Kinder haben, den Missbrauch dieser Macht, die kontinuierliche Weitergabe von Lieblosigkeit an ungewollte Töchter. Am Rande auch ein Buch über die Gewalttätigkeit von Männern, als Ehemänner und Väter.
Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 02.07.2009
Glaubt man Julika Griem, so hat Jonathan Coe alle drohenden Klippen seiner von Tragödien gezeichneten Familiengeschichte umschifft und einen großartigen Roman geschrieben. Erstmals begibt sich der englische Autor darin auf ein von Frauen beherrschtes Terrain, indem er von mehreren Mütter-Töchter-Generationen einer Familie erzählt, die als eine "Abfolge von Vernachlässigung und Überforderung" erscheint, erklärt die Rezensentin. Der erzählerische Einfall, die Geschichte aus der Sicht der verstorbenen Tante Rosamond darzustellen, die anhand von 20 Fotos ihrer blinden Großnichte Imogen die familiären Tragödien auf nachgelassenen Tonbänder auseinanderlegt, preist Griem als glücklichen "Kunstgriff", mit dem der Stoff für sentimentale Genreschilderungen verfremdet und gebannt wird. Damit erreiche Coe zudem, dass eindrücklich die grundsätzliche "Unabschließbarkeit familiärer Konflikte" augenfällig werde, so die Rezensentin beeindruckt, die deshalb auch gutheißt, dass der Roman keine einfache Sinnstiftung anbietet. Auch das Motiv der lesbischen Liebe findet der Rezensent geschickt eingeflochten.
Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.2009
Man liest das schon gern, dieser Roman ist, so der Rezensent Gerhard Schulz, "a good read". Klingt wie ein Kompliment, ist aber, wie sich sogleich herausstellt, sehr vergiftet. Denn das Schmökerhafte des Romanciers Coe, der einmal eher experimentell anfing, hat seinen Preis: Einen Mangel an Komplexität, einen Rückfall in die Romanformen des 19. Jahrhunderts und, am schlimmsten, einen erstaunlich primitiven Abstammungsdarwinismus - so Schulz. Vorgestellt wird in "Der Regen, bevor er fällt", eine Familie, fast ausschließlich Frauen. Und erklärt wird aus dem Charakter der Stammmutter, warum aus den Töchtern und Nichten und Enkelinnen die problematischen Menschen werden mussten, als die sie Coe nun schildert. Der Verlag vergleicht das Werk mit Ian McEwans "Abbitte" - das aber findet Schulz, der deutlich unerfreut klingt, viel zu hoch gegriffen.
Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 12.03.2009
Perfekt findet Rezensentin Tanya Lieske diesen Familienroman über vier Generationen von Müttern, der ihren Informationen zufolge einen Zeitraum von achtzig Jahren umfasst. Das Besondere an der Komposition dieses Buchs ist aus ihrer Sicht, wie Jonathan Coe die chronologische Zeitstruktur seines Stoffes verwarf und hier nun eine "größtmögliche Gegenwart mehrerer Zeiten" erreicht und durch Überlagerung von Zeiten und Wahrnehmungen Koinzidenzen entstehen lässt. Auch bewegt sie manches an diesem Buch, die blinde Imogen zum Beispiel, für die Rosamund, eine andere Figur des Buchs, am Tag ihres Selbstmordes noch Kassetten bespricht. Doch wird Lieskes Leserglück durch allzu große Perfektion des Romans getrübt, der, wie die Rezensentin das beschreibt, vom Leben handelt, ohne selbst die Delle aufzuweisen, die den Leser wissen lasse, das "alles, was lebt, auch mal hingefallen sein muss".
Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 12.03.2009
Insgesamt hat Margret Fetzer der generationenübergreifende Familienroman des Briten Jonathan Coe zugesagt, auch wenn sich die Lektüre stellenweise anstrengend gestaltete. Das liegt nach Fetzer an der subjektiven und teilweise zusammenhanglosen Erzählstimme der Protagonistin Rosamond, die sich posthum mittels Tonbändern und Fotografien an ihre weibliche Nachkommenschaft wendet: vornehmlich die weitläufig verwandte blinde Imogen. Die Geschichte geht zurück bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs und arbeitet die von physischen und psychischen Verletzungen geprägten Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern dreier Generationen und die daraus resultierenden Widersprüche auf, die sich laut Rezensentin darin ausdrücken, dass die geschilderten Frauenleben zugleich "frei und determiniert" waren. Das gilt auch für die Perspektive der homosexuellen Erzählerin, die den "Gegensatz zwischen männlich und weiblich" untergrabe, was der Rezensentin zufolge nicht das geringste Verdienst des Romans ist.
"Jonathan Coe ist als Schriftsteller zu außerordentlicher Reife, Wärme und Raffinesse gelangt. 'Der Regen bevor er fällt' ist eine makellose und lebendige Charakterstudie, mit der Coe sein bisher bestes Werk vorlegt. (The Independent)
"Sein dichtester und ergreifendster Roman. (The Boston Globe)
"Jonathan Coe hat eine unheilvolle und zugleich sehr rührende Geschichte von Müttern und Töchtern geschrieben, vom Schmerz, der über Generationen weitergereicht wird, von tiefer, beständiger Einsamkeit. (...) 'Der Regen, bevor er fällt' ist kraftvoll und melancholisch wie ein kurzer trauriger Song. (The Guardian)
"Für mich ist das wichtigste, das meine Bücher die Menschen berühren."
Ein Gespräch mit Jonathan Coe © Sophie Bassouls
Herr Coe, Ihr Vorgängerroman, Der Regen, bevor er fällt, hat bei Erscheinen großes Staunen in der Presse hervorgerufen, und zwar nicht nur, weil Sie zum ersten Mal aus der Perspektive einer Frau erzählten, sondern auch, weil Sie mit ihm stilistisch einen Kurswechsel beschrieben. Sind Sie mit Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim nun wieder zum alten Kurs zurückgekehrt, oder ist etwas von dem Jonathan Coe, der diesen so anderen Roman vorgelegt hat, auch in Ihrem neuen Werk vorhanden?
Ich denke, dass ich in Der Regen, bevor er fällt etwas an die Oberfläche gelassen habe, das in den vorherigen Romanen immer schon spürbar war: die Melancholie. In Allein mit Shirley zeigt sie sich in der Beziehung zwischen Michael und se ner Mutter; in Das Haus des Schlafes ist die Liebesgeschichte, die im Zentrum des Romans steht, melancholisch gezeichnet. Erste Riten wiederum wurde zwar mit einem Preis für humorvolle Belletristik geehrt – ich musste dafür sogar mit einem Schwein im Arm fotografiert werden –, doch zugleich erzählt dieser Roman von einem Mädchen, dessen Freund von einer IRA-Bombe in die Luft gesprengt wird. Es gab also immer schon dunkle Unterströmungen in meinem Schreiben. Ebenso wie das Thema Familiengeheimnisse, das mich auch schon vor Der Regen, bevor er fällt als Handlungselement und als Gegenstand literarischer Untersuchung interessiert hat, taucht die Melancholie als Tendenz meines Schreibens auch in Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim auf. Tatsächlich ließe sich der Roman als ein Versuch einordnen, die ernsthafteren, introspektiveren Seiten meines Schreibens mit den humorvollen, satirischen Aspekten meiner früheren Bücher zu kombinieren.
»Ein hervorragender poetischer Roman voller Poesie, Zärtlichkeit, Melancholie, Verstörung und Geduld, der nicht nur gelesen werden sollte, sondern sich auch zum Vorlesen eignet.«
LAMBDA Nachrichten, 02/10
»Ohne Schnörkel erzählt der Brite Jonathan Coe vom Schmerz, der von den Eltern an die Kinder weitergereicht wird, der größer und größer wird, bis er sich endlich seine Bahn brechen kann. Ein Roman über drei Generationen von Frauen, über tiefe Einsamkeit und das Glück der Liebe.«
Brigitte (19.05.2009)
»In der Vermittlung von mehr als einer Wirklichkeit steht Coes neuer Roman Ian McEwans 'Abbitte' in nichts nach.«
taz
»Es ist ein bemerkenswertes Buch, und das gleich in mehrerer Hinsicht. Ein männlicher Autor schreibt über – Mütter und Töchter. Drei Generationen von Frauen. Und vor allem: aus der Sicht einer Frau, einer lesbischen Frau obendrein. Und ausgerechnet Jonathan Coe, der eher für seine Kaltschnäuzigkeit bekannt war, gelingt das verblüffend gut. (...) Das bittersüße Lebensgefühl der Erzählerin erinnert manchmal an Julia Francks Buchpreis-prämierten Roman „Die Mittagsfrau“. Britische Kritiker vergleichen die bedrohliche Spannung außerdem mit Ian McEwans „Abbitte“, vor zwei Jahren als Literaturverfilmung auch in den deutschen Kinos. Vielleicht ist beides ein bisschen zu hoch gegriffen – es ist ein viel kleineres Buch, eine bescheidenere Geschichte. Doch die Sogwirkung ist ebenso groß.«
NDR
»Eine emotionale, höchst fesselnde Geschichte über Mütter und Töchter, die Jonathan Coe ganz meisterhaft erzählt.«
freundin (28.01.2009)
»Ganz ohne Voyeurismus oder künstliches Drama hat der Brite sie aufgeschrieben, einfühlsam und ernst. Er zeigt die Abgründe, die in den meisten Menschen schlummern - und die miteinander kombiniert zu unüberwindbaren Schluchten werden können, die die Betreffenden für immer voneinander trennen.«
Abendzeitung
»Jonathan Coe fesselt, mit einem außergewöhnlichen Roman, kraftvoll erzählt und voll melancholischer Töne.«
Zuhause Wohnen (01.03.2009)
»Man überlässt sich gern der erzählerischen Intelligenz, die durch Respekt vor dem Ungesagten besticht.«
Frankfurter Rundschau (02.07.2009)
»Ein dichter, emotionaler Roman, melancholisch und rhythmisch in der Sprache wie ein kurzes trauriges Lied, emotional und gleichzeitig ungeheuer fesselnd. Einfach wunderbar.«
Lesart (01.01.2009)
»Jonathan Coe, der bislang vor allem als gesellschaftskritischer Schriftsteller hervortrat, hat sich mit staunenswerter Souveränität einem neuen literarischen Feld zugewandt. So viel Bitterkeit er in das biografische Labyrinth seiner Protagonisten einfließen lässt, so nuanciert versteht er es, psychische Schwankungen nachzuzeichnen und selbst dem Schrecklichen positive Seiten abzugewinnen. Ein elegant elegischer Roman.«
Die Welt (11.07.2009)
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