29 September 2011

Lesen macht klug und schoen 471 - Judith Schalansky - Der Hals der Giraffe

Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2011:  

»Judith Schalansky hat einen originellen, eigensinnigen und hellwachen Roman geschrieben, mit dem sie sich an die Spitze der literarischen Evolution setzt.«

Judith Schalansky - Der Hals der Giraffe

Bildungsroman 

Der Hals der Giraffe
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
ISBN 9783518421772
21,90 EUR
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Anpassung ist alles, weiß Inge Lohmark. Schließlich unterrichtet sie seit mehr als dreißig Jahren Biologie. Daß ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern – in der schrumpfenden Kreisstadt im vorpommerschen Hinterland fehlt es an Kindern. Lohmarks Mann, der zu DDR-Zeiten Kühe besamt hat, züchtet nun Strauße, ihre Tochter Claudia ist vor Jahren in die USA gegangen und hat nicht vor, Kinder in die Welt zu setzen. Alle verweigern sich dem Lauf der Natur, den Inge Lohmark tagtäglich im Unterricht beschwört. Als sie Gefühle für eine Schülerin der 9. Klasse entwickelt, die über die übliche Haßliebe für die Jugend hinausgehen, gerät ihr biologistisches Weltbild ins Wanken. Mit immer absonderlicheren Einfällen versucht sie zu retten, was nicht mehr zu retten ist.

Nach dem gefeierten Atlas der abgelegenen Inseln schreibt Judith Schalansky einen Roman. Darin kämpft eine Biologielehrerin für die Einhaltung der Naturgesetze, verrenkt sich den Hals nach unerreichbaren Früchten und fällt am Ende vom Glauben an Gott Darwin ab. Schauplatz der Geschichte ist eine der irrwitzigsten Anstalten dieser Welt: die Schule.



Judith Schalansky
Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr literarisches Debüt, der Matrosenroman Blau steht dir nicht, erschien 2008. Für ihren Atlas der abgelegenen Inseln wurde sie unter anderem mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.

 

Pressestimmen 

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 28.09.2011

Es gibt keinen Fortschritt, basta. Für die Dauer dieser Lektüre ist Jörg Magenau sogar bereit, ein solches Diktum zu akzeptieren. Zu schön sind die lehrbuchartigen Bebilderungen der Autorin, zu gut passt es zu Judith Schlalanskys Hauptfigur, einer dem darwinistischen Lebensprinzip verpflichteten, selbst bereits Richtung Abstellgleis der Evolution verschobenen vorpommerschen Biolehrerin. Schön liebevoll findet Magenau auch die Figurenbehandlung, die eine strenge Perspektive ermöglicht. Im Übrigen scheint ihm die bildungspessimistische Unerbittlichkeit der Frau Lehrerin durchaus nachvollziehbar. Bloß mit der Geschichte klappt es nicht so gut in diesem Buch. Die tritt auf der Stelle, meint Magenau. Ein bisschen wie in einem Lehrbuch. Ein bisschen langweilig.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.09.2011

Die Stimme der Autorin durch die Stimme ihrer Figur hallt beim Rezensenten noch lange nach. Die äußerliche Sprödigkeit des neuen Romans von Judith Schalansky, das Lehrbuchhafte des grauen Leinens, das Ulrich Rüdenauer als haptische Besonderheit (Buch schlägt Kindle!) ausdrücklich lobt, korrespondiert für ihn auf einmalige Weise mit der Hauptfigur, eine an der im Zuge der Handlung immer augenfälliger werdenden Differenz zwischen ihrem darwinistischen Weltbild und der Wirklichkeit ihres tristen Daseins leidenden Biologielehrerin. Es kommt, wie es kommen muss, die Vermeidungsstrategin fährt gegen die Wand. Rüdenauer hat hier keinen klassischen Entwicklungsroman entdeckt, sondern ist einer durchaus beschränkten, eben gänzlich undarwinistischen, doch umso glaubhafteren Entwicklung gefolgt, die von der Autorin, wie er schreibt, virtuos, behutsam und vielschichtig arrangiert wird.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.09.2011

Hymnisch bespricht Rezensentin Felicitas von Lovenberg Judith Schalanskys neuen Roman "Der Hals der Giraffe". Denn dieser "aufregend trockene" Roman hat einiges zu bieten, wie die Kritikerin berichtet: das bestürzende Psychogramm einer Frau, Biologielehrerin in einer ostdeutschen Kleinstadt, deren biologistisches Weltbild, das zwar viel Platz für Anpassung, aber leider keinen Raum für Verständnis bietet, zunehmend ins Wanken gerät. Der auch in entsprechendem Erzählton geschilderten Nüchternheit der Protagonistin setze Schalansky die Natur entgegen, nicht nur als individuell bedrohliche Triebgewalt, sondern vor allem als Macht, die sich die Straßen und Gehwege der entvölkerten Landstriche zurückerobere. Sehr elegant spreche die Autorin damit zugleich aktuelle Gesellschaftsthemen wie Überalterung, Klimawandel oder Landflucht an. Darüber hinaus hat die Rezensentin in diesem "umgekehrten Bildungsroman" dank Schalanskys wissenschaftlicher Genauigkeit und der wunderbaren Illustrationen interessante Einblicke in biologische Urprozesse wie Parasitismus oder Artensterben erhalten.
 
»Wie aus einem Tropf träufelt eine vollkommene Mischung aus aufmerksamer Fantasie und poetisch-kühler Sprache dem Lesenden hoch dosiert in den Kreislauf.«
Erhard Schütz, Das Magazin September 2011
»Judith Schalansky gelingt mit ›Der Hals der Giraffe‹ ein Kunststück.« Sebastian Hammelkeule, Der Spiegel

»Eine hinreißende Suada. […] Unser Buch des Herbstes.«
Elmar Krekeler, Die Welt kompakt

»Wie aus einem Tropf träufelt eine vollkommene Mischung aus aufmerksamer Fantasie und poetisch-kühler Sprache dem Lesenden hoch dosiert in den Kreislauf.«
Erhard Schütz, Das Magazin

»222 Seiten nahtloser innerer Monolog, abgehangene, ausgereifte Figurenrede. Ein kleiner, feiner, gemeiner Roman.«
Wieland Freund, Die Welt


»Sehr amüsant zu lesen. […] Judith Schalansky zeichnet das Bild einer unsympathischen Frau so eindringlich, dass man heftige Sympathie für diese aus der Zeit gefallene Heldin empfindet.«
Manuela Reichardt, Deutschlandradio

"Bildungsroman" ist das Buch aber auch im wortwörtlichen Sinn als bebilderter Roman. Schalansky, gelernte Typographin und Buchgestalterin, hat es mit detailgenauen Zeichnungen von Seekuh, Quallen, Flugsaurier, Fischen und Föten angereichert und es wie ein richtiges Biologiebuch angelegt. Das graphische Element spielte auch in ihren vorigen Büchern, besonders in dem schönen, abseitigen "Atlas der abgelegenen Inseln" eine wichtige Rolle. Die Kapitelüberschriften für die drei geschilderten Tage, "Naturhaushalte", "Vererbungsvorgänge" und "Entwicklungslehre" sind neben den jeweils abgehandelten Themen als Rubriken im Seitenkopf angegeben, sodass dieser Roman lesbar wird, wie von Inge Lohmark am Anfang kommandiert: "Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf!"
»Eine der beeindruckendsten, intensivsten Lektüren der letzten Jahre!«
Marius Fränzel, bonaventura

Buchpreis wäre verdient Am beeindruckendsten aber ist, wie die Erzählerin völlig hinter der Perspektive ihrer Protagonistin verschwindet, den Leser in ihren Bann zieht und sie sich selbst entlarven lässt. Ein subtiles Plädoyer gegen falsch verstandenen Darwinismus. Ein hinreißender Beweis dafür, was Literatur kann. Und eine ganz heiße Kandidatin für den Deutschen Buchpreis.

Wenn die Materialität des Buchs selbst zum Text wird, der gelesen werden will, sehen E-Books ziemlich alt aus. Judith Schalanskys Bücher sind immer auch haptische Kunstwerke. Auf den Kindle runtergeladen, würden sie mindestens eine Betrachtungsebene verlieren. Der Matrosenroman "Blau steht dir nicht" oder der "Atlas der abgelegenen Inseln" sind auch bibliophile Bände zum Betrachten, Blättern und Bildergucken. Ihr Äußeres gleicht, frei nach Gérard Genette, einem Vestibül, das einen verlockt, einzutreten..... Dass am Ende vielleicht doch ein kleiner Bruch in Inge Lohmarks Denken stehen könnte, das lässt sich mehr erahnen als belegen. Aber auch das spricht für diesen großartigen, virtuosen, vielschichtigen Roman, der seine Figur nur einer sehr behutsamen Entwicklung aussetzt und in dem eine Stimme zu hören ist, die dem Leser noch lange im Ohr bleiben wird. 

Sozialdarwinismus pur In "Der Hals der Giraffe" geht es um Darwin, genauer um das, wie eine alternde Lehrerin sich mit Darwins Hilfe die Welt erklärt. "Moral hat in der Biologie genauso wenig zu suchen wie in der Politik", erklärt sie, nachdem sie erst in der DDR und dann in der neuen Bundesrepublik prinzipienfest unterrichtet hat. Ihre IM-Berichte aus DDR Zeiten können so schlimm doch nicht gewesen sein, denkt sie. Verständnis und Einfühlung haben im Unterricht nichts verloren, denn die Jugendlichen, die sie vor sich sieht, sind Blutsauger, die einem die Lebensenergie rauben. Inge Lohmark sieht nur mehr das Fußvolk der Evolution vor sich sitzen.

Bücher von Judith Schalansky

Schalansky, Judith: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Insel, auf denen ich nie war und niemals sein werde

Cover: Atlas der abgelegenen Inseln
Marebuchverlag, Hamburg 2009, ISBN 3866481179, Gebunden, 144 Seiten, 34,00 EUR
Dass es immer noch Orte gibt, die schwer zu erreichen sind, erscheint uns heute nicht mehr vorstellbar. Judith Schalansky aber hat sie gesammelt: fünfzig entlegene Inseln, die in jeder Hinsicht weit entfernt sind, entfernt vom Festland, von Menschen, von Flughäfen und Reisekatalogen. Aus historischen Begebenheiten und naturwissenschaftlichen ..

Schalansky, Judith: Blau steht dir nicht. Matrosenroman

Cover: Blau steht dir nicht
Marebuchverlag, Hamburg 2008, ISBN 3866480784, Gebunden, 141 Seiten, 18,00 EUR
Eine Kindheit am Meer. Eine Sehnsucht nach Freiheit. Die Ahnung, dass Freiheit einen Preis hat. Judith Schalansky erzählt in ihrem eindringlichen Romandebüt vom Aufwachsen an der Ostseeküste in der DDR, dort "wo andere Urlaub machen". Und von den Reisen der erwachsenen Ich-Erzählerin nach Russland und in die USA, wo sie ... 

Schalansky, Judith: Fraktur mon amour. Mit CD-Rom

Cover: Fraktur mon amour
Hermann Schmidt Verlag, Mainz 2006, ISBN 3874396967, Gebunden, 49,90 EUR
Mit über 300 kompletten Frakturzeichensätzen und Schmuckbuchstaben. Deutsch-Englisch. Jahrzehnte lebten sie am Rand des Vergessens allenfalls auf Wirtshausschildern und in Zeitungsköpfen, heute feiern gebrochene Schriften in Mode, Grafikdesign, Musik und Trendkommunikation ein fröhlich-freches Comeback. Sie zieren Shirts und Plakate, ..

 

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