Roman
Banal und schaurig-schön: Mutter und Tochter
Die Mutter lebt am Rande der Verwahrlosung in ihrem Haus auf dem Land, verschanzt wie in einem Bau, verbittert und misstrauisch bis zur Bösartigkeit. Ihre einzige Tochter Luce, Anfang vierzig, unscheinbar, geschieden und von der Last ihres eigenen, vermeintlich verpfuschten Lebens niedergedrückt, fährt jedes Wochenende zu ihr, von Pflichtgefühl, schlechtem Gewissen und Sorge getrieben, während die Mutter »allwöchentlich wie eine riesige fleischfressende Pflanze in ihrer Höhle auf sie wartet, bereit, sie zu verschlingen.« Seit langem trägt Luce sich mit dem Gedanken, der Mutter eine häusliche Pflege zu organisieren – doch die wehrt sich mit Händen und Füßen.
Anlässlich ihres Weihnachtsbesuchs hat die Tochter sich fest vorgenommen, diesmal nicht klein beizugeben. Der Konflikt spitzt sich zu, als sie die Mutter zu einem für die Senioren des Dorfes veranstalteten Gemeinschaftsessen schleppt, auf dem sie sowohl die erträumte Altenpflegerin als auch, ganz plötzlich, den Mann fürs Leben zu finden hofft. Und das Drama nimmt seinen Lauf: in raschen, mal überspitzten, mal melancholischen Momentaufnahmen.
Mit stoischer Zielsicherheit, einem auf jeder Seite aufflammenden Sinn für das Groteske und abgeklärter Furchtlosigkeit entwickelt Rosa Matteucci eine Geschichte, wie jeder sie zu kennen glaubt und wie sie so noch nicht erzählt wurde. Und ein Moment von Schönheit leuchtet noch in den widersprüchlichsten Facetten einer festgefahrenen Mutter-Tochter-Beziehung auf, zwischen Groll und Schuldgefühlen, Tristesse, Banalität und Güte.
Rosa Matteucci (*1962) lebt heute in Genua. Ihr erster Roman »Lourdes« (1998, Premio Grinzane Cavour für ein literarisches Erstlingswerk), erschienen 2009 bei diaphanes, erregte in Italien großes Aufsehen. Es folgten die Romane »Libera la Karenina che è in te« sowie »Cuore di Mamma« (ebenfalls Premio Grinzane Cavour); ihr jüngstes Buch, »Tutta mio padre«, erschien 2010. »Ich kenne sie nicht, ich habe keine Ahnung, wer sie ist, ich weiß nicht, wer ihre literarischen Vorbilder sind. Aufs Geratewohl fallen mir drei Namen ein, nämlich Céline, Beckett und Thomas Bernhard…« (Carlo Fruttero über Rosa Matteucci)
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SWR2 ......Und doch lohnt sich die Lektüre, weil hier Fragen aufgeworfen werden, die über das Buchselbst hinausweisen. Denn wie soll man den abrupten, überraschenden Schluss desRomans verstehen? Traut man einem Frieden, der auf absoluter Unterwerfungberuht? Ist diese Versöhnung ernsthaft gemeint? Oder wollte die Autorin mit ihrer Wendung gerade auf subtile Weise zeigen, dass Marias demütige Unterordnung eineArt von Gehirnwäsche darstellt? Diese ungemütliche Frage drängt sich auf, wenn...
Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 12.07.2011
Franz Haas legt uns mit Nachdruck zwei Romane von Rosa Matteucci ans Herz, die in seinen Augen bislang längst nicht die Aufmerksamkeit bekommen hat, die sie verdient. Ihr Roman "Mutterherz", 2006 auf Italienisch erschienen, spielt in einer "Welt von herzzerreißender Hässlichkeit" und erzählt von einem quälenden Mutter-Tochter-Verhältnis, erfahren wir. Jedes Wochenende besucht die 42-jährige Luce ihre Mutter in einem Dorf im nördlichen Latium und leidet unter ihrer parasitären Art und der Hässlichkeit ihrer Lebensbedingungen. Das alles wird beschrieben in einer furiosen Erzählweise, einer Kreuzung aus Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek, wie der begeisterte Haas findet. Dass sich auf den letzten Seiten dann doch noch so etwas wie ein Hoffnungsschimmer für die Protagonistin bemerkbar macht, ist Haas allerdings fast "unheimlich", wie er bekennt.
Bücher von Rosa Matteucci
Diaphanes Verlag, Zürich 2011, ISBN 303734072X, Gebunden, 184 Seiten, 16,90 EUR
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. In eine kneifende Uniform gezwängt und mit einer entsetzlichen Kopfbedeckung angetan, tritt Maria Angulema die Reise nach Lourdes an. Mit dem Ziel, vom Herrgott höchstpersönlich eine Erklärung für den Unfalltod ihres Vaters einzufordern, begleitet sie als freiwillige Schwesternhelferin ...