»Immer verwechselt man den eigenen Blick mit dem der anderen.«
Eva Menasse - Quasikristalle
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2013
ISBN: 978-3-462-04513-0
19,99 Euro
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Was wissen wir wirklich über uns selbst? Und was vom anderen?
In dreizehn Kapiteln zerlegt Eva Menasse die Biografie einer Frau in ihre unterschiedlichen Aspekte, zeigt sie als Mutter und Tochter, als Freundin, Mieterin und Patientin, als flüchtige Bekannte und treulose Ehefrau. Aus diesem Mosaik tritt auf magische Weise ein kühner Roman hervor, der wie nebenbei die Fragen nach Wahrnehmung und Wahrheit stellt.
Zu Beginn ist Xane Molin vierzehn Jahre alt und erlebt mit ihrer besten Freundin einen dramatischen Sommer. Am Ende ist sie Großmutter und versucht, für den Rest des Lebenswegs das Steuer noch einmal herumzureißen. Dazwischen nähern wir uns ihr aus verschiedensten Blickwinkeln: Da ist ihr Vermieter, der sie misstrauisch beobachtet und eigene Geheimnisse hat, da ist der Überlebende eines Bürgerkriegs, der sich in sie verliebt, da ist die ungestüme Jugendfreundin, die Xane nach Jahrzehnten plötzlich nicht mehr zu ertragen glaubt.
Eva Menasse hat einen unbestechlichen Blick für Frauen in der Gesellschaft, ihre menschlichen Schwächen und das, was man an ihnen lieben muss. Furchtlos und subtil erzählt sie von einer aberwitzigen Auschwitz-Exkursion, vom Arbeitsalltag einer Kinderwunschärztin oder von den Mutproben der pubertierenden Tochter in der Patchwork-Familie ihrer Heldin. Ein energisches Buch, poetisch, komisch und bestürzend, dessen Titel der Naturwissenschaft entliehen ist. Erst kürzlich wurde entdeckt, dass es nicht nur Kristalle mit klar symmetrischer Struktur, sondern auch gebrochene und scheinbar unregelmäßige gibt. Genauso verhält es sich mit dem Lebensweg: Er ist verschlungen und schwer berechenbar und nur aus der Ferne als Ganzes erkennbar.
Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin beim österreichischen Nachrichtenmagazin Profil. Sie wurde Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und begleitete den Prozess um den Holocaust-Leugner David Irving in London. Nach einem Aufenthalt in Prag arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in Wien. Sie lebt seit 2003 als Publizistin und freie Schriftstellerin in Berlin. Sie veröffentlichte bisher den Roman "Vienna" und den Erzählungsband "Lässliche Todsünden".
In ihrem Roman "Quasikristalle" erzählt Eva Menasse die Biografie der Xane Molin in dreizehn Kapiteln ausschließlich aus der Perspektive anderer: der Schulfreundin, des Vermieters, der Ehefrau ihres Geliebten, einer Jugendfreundin oder der Tochter. Lesen Sie hier einen Auszug.Zur Leseprobe
Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 13.04.2013
Rezensent Tim Caspar Boehme berichtet von einer eher durchwachsenen Lektüre: Zwar weckt die strukturelle Gestaltung von Menasses Schilderung eines Lebens aus kapitelweise unterschiedlichen Perspektiven durchaus seine Neugier und das versammelte Figurenensemble - darunter ein selbstzerstörerisch veranlagter Holocaustforscher - ist zuweilen recht wuchtig. Doch stellt sich dem Rezensenten auch bald die Frage nach der Erkenntnis, die er aus dieser "Binnenansicht eines eher geschlossenen Milieus" und den Nöten von Intellektuellen im Alltag ziehen soll: Vieles ist reichlich unspektakulär, findet Boehme, der dann auch noch in Menasses sprachlicher Eleganz die eigentliche Krux des Buches identifiziert: Gerade deren Makellosigkeit unterstreiche die Belanglosigkeit einiger Passagen.
Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 12.03.2013
Rezensentin Sabine Peters kann Eva Menasses Roman "Quasikristalle" durchaus Positives abgewinnen, großes Vergnügen etwa bereiteten ihr die ätzend-geistreichen Bemerkungen, welche die Autorin einzustreuen versteht. Und unbenommen scheinen ihr Menasses Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Trotzdem wird sie nicht warm mit dem Roman. Zum einen findet sie die Konstruktion, das Leben der Heldin Xane aus Sicht verschiedener Menschen zu beschreiben, sehr raffiniert, aber nun auch nicht sehr originell. Zum anderen aber, und das wiegt für sie schwerer, laufen die verschiedenen Erzählungen über Xane nur formal auf Entfremdung hinaus, inhaltlich aber auf die absolute Affirmation. Im Grunde, mein Peters, sind sich nämlich alle im Großen und Ganzen einig über Xane, die sich der Rezensentin als ganz "normale Superfrau" mit ein paar Macken darstellte.
Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 22.02.2013
Bei Christopher Schmidt läuten die Alarmglocken, wenn sich Literatur zu sehr naturwissenschaftlicher Begrifflichkeiten bedient. Die "Experimente" und "Versuchsanordnungen" verbergen ihm zu oft nur dürftig einen mangelhaften Stil, und der "sekundäre Reiz eines literarischen Suchspiels", der in systematischen Tüfteleien stecken mag, kann ihn dafür nicht entschädigen. Für Schmidt ist Eva Menasses Roman "Quasikristalle" ein Paradebeispiel für diese Kategorie. Sie erzählt das ganze Leben ihrer Protagonistin Xane Molin aus immer neuen Perspektiven sie umgebender Personen und versucht so, Molin umfassend auszuleuchten. Dem Rezensenten kommt es aber so vor, als wäre die Protagonistin nachträglich in eigentlich unabhängige Erzählungen retuschiert worden, gestützt durch ein überformalisiertes Gerüst. Ihr Fehlen wäre ihm kaum aufgefallen. Die Charaktere lösen sich allgemein nicht von ihrer Funktion, findet Schmidt, überhaupt ist ihm alles schon zu sehr metaphorisch gedeutet, "jede Sache zu oft 'wie' eine andere". Er gesteht Menasse zwar zu, dass sie charmant, spöttisch und melancholisch schreiben kann, aber als Roman funktioniert "Quasikristalle" nicht, urteilt der Rezensent.
Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 21.02.2013
Alle Anzeichen des experimentellen Romans entdeckt Hannelore Schlaffer im neuen Buch von Eva Menasse: Verzicht auf eine sukzessiv erzählte Lebensgeschichte, Zusammensetzung aus thematisch disparaten, rasch wechselnden Sequenzen, Bewusstseinsstrom etc. Leider scheinen Schlaffer weder die topaktuellen Themen (Ehebruch, Sterbehilfe, Depression, Generationenproblematik) noch die schöne essayartige Herangehensweise vom Stuhl zu reißen. Lieber wäre ihr gewesen, Menasse hätte ihr Erzähltalent, ihre Beobachtungsgabe und ihre Fantasie dafür nicht weitgehend an den Nagel gehängt.
Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.02.2013
Echte Erkenntnis, die sich auch noch vergnüglich liest - viel zu selten finden sich im deutschen "Stilhaushalt" Versuche, wie der von Eva Menasse, meint Ijoma Mangold. Das Thema von "Quasikristalle" ist nicht neu, aber toll in Szene gesetzt, findet der Rezensent: es geht um die Zeit, nicht als abstraktes Hintergrundrauschen sondern als ganz konkretes Medium in dem wir uns bewegen, erklärt Mangold. Durch sie gewinnen Entscheidungen erst ihr Gewicht, weil wir nicht wieder hinter sie zurück können, weil verpasste Chancen wahrscheinlich nicht wiederkommen. Das lässt sich zwar leicht sagen, aber es in einer Geschichte erfahrbar zu machen, das ist Kunst, erinnert der Rezensent. Menasse gelingt dieses Kunststück, indem sie die Geschichte ihrer Protagonistin Xane Mole in fortschreitenden Fragmenten aus immer wechselnden Perspektiven erzählt, von Freunden, Kollegen und ihrer Familie. Das Buch fließt so auch aus unserer Vergangenheit in unsere gegenwärtige Zukunft, bis in die Mitte des Jahrhunderts, und zwingt den Leser der Gegenwart, Xane auf zeitlicher Augenhöhe zu begegnen, erklärt Mangold. Die Fragmente funktionieren wie die titelgebenden Quasikristalle: sie bilden "Verknüpfungsmuster, die nach Zufall aussehen, weil wir ihre aperiodische Ordnung nicht erkennen", beschreibt der Rezensent.
Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.2013
Hymnisch bespricht Rezensentin Sandra Kegel Eva Menasses Roman "Quasikristalle". Allein der Titel, der auf die von dem Nobelpreisträger Daniel Shechtmann entdeckten, als "verbotene Symmetrien" bezeichneten Kristalle verweist, versetzt die Kritikerin in Entzücken. Geradezu genialisch gelinge es Menasse, die chemischen Strukturen in Literatur umzusetzen, schwärmt Kegel, die hier der multiperspektivisch erzählten, zwischen "Wahrnehmung und Wahrheit" oszillierenden Geschichte der Heldin Xane Molin folgt. Die Rezensentin begegnet Xane zunächst als junges Mädchen, deren Kindheit durch schwere Schicksalsschläge ein jähes Ende nimmt, später als junger Frau, die bei einer Auschwitz-Exkursion von ihrem Dozenten aufgrund ihrer von Angst, Schmerz, ironischer Distanz und Selbstüberschätzung geprägten Persönlichkeit als "klassischer Fall halbjüdischer Doppelhelix" bezeichnet wird und schließlich als starke und selbstsichere Unternehmerin in Wien. Während die Kritikerin Menasses Protagonisten in schwindelerregend vielen verschiedenen Identitäten erlebt, hat sie im Laufe der Lektüre doch das Gefühl, dem eigenen Dasein immer näherzukommen. Nicht nur deshalb rät sie: Unbedingt lesen.
Die Schriftstellerin Eva Menasse hält eine Rede über Österreich – und wird dafür vom hiesigen Buchhandelschef attackiert. Eine Widerrede."In diesem kleinen, engen Land, das so viel Wert auf Zugehörigkeit, auf seine hitzige „Nestwärme“ legt, ist dies der hoppertatschige Versuch eines Vernichtungsurteils. Er tangiert mich persönlich nicht; es gibt so viele Buchmessen, so viele Möglichkeiten zu schreiben und zu reden, dass ich die „BuchWien“ in Zukunft wirklich nicht mit meiner Anwesenheit belästigen muss. Bestürzend ist aber, in Verbindung mit dem Amt des Sprechers, die eingefleischte Verachtung von Schriftstellern und Künstlern. Bestürzend ist die absolute, gleichzeitig naiv eingestandene Unfähigkeit, sowohl das geschriebene und gesprochene Wort als auch die Rolle des Autors zu verstehen. Der doch, wenn man ihn so ritualisiert reden lässt, nur ein moderner Hofnarr ist, höflich beklatscht am einen, vergessen am nächsten Tag. Küss die Hand, Herr Präsident Schantin, Ihr Gesicht, als Sie mich in der Buchhandelszentrale willkommen hießen, nur zwei Tage bevor „Des brauch i nimma“ erschien, werde ich nun doch nicht so schnell vergessen."
http://www.profil.at/articles/1147/560/312505/gastkommentar-eva-menasse-i-praesident
Zitat zum daily book heute:
"Wir haben doch alle die Bilder und die Fakten des Holocaust im Kopf. Die ständige Wiederholung schwächt längst eher ab, als dass sie etwas klar macht. Ich vertraue der Wirkung des Weglassens, genauer: ich drücke mich eben auch durch das aus, was wir alle wissen, was ich bewusst so unterspiele, bis es weh tut. Wir sind überflutet von Bildern der Gewalt. Die Aufgabe der Literatur — wie des Films — muss gerade darin bestehen, andere Formen der Eindrücklichkeit zu finden. In diesem Sinne ist die möglichst unauffällige Mischung des Leichten mit dem Schweren natürlich ganz bewusst und Absicht — aber es scheint mir auch mein Naturell ermöglicht zu haben, diesen Weg zu finden."
Eva Menasse
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